Viele sehen in der berlinischen Stadtkultur den Ort ihrer sexuellen Befreiung. Aber erfüllt sich das Versprechen? Wie viel und was für eine Freiheit bleibt, wenn Sex auch in queeren Kreisen identitätsstiftend und gar normierend wird?

Queere Person beim Feiern
Kleine Migrationsgeschichte auf der Party

Ich bin auf einer dieser Berliner Parties, die von der Nacht in den Tag und wieder in die Nacht gehen, wenn nicht sogar länger. Dabei ereignen sich unendlich viele Begegnungen und oft auch ziemlich interessante Gespräche, die locker eine ganze Stunde gehen können. Eine Begegnung mit diesem Potenzial bahnt sich an, als ein Freund mich mit einem hier lebenden russischen Künstler bekannt macht. Als ich ihn nach seiner Kunst frage, fällt ihm plötzlich ein, dass er in seiner Tasche Henna-Tuben dabei hat. Meine Frage bleibt also unbeantwortet, mir wird aber angeboten mich bemalen zu lassen. Naiverweise nehme ich still an, er sei wohl ein mit der Hand versierter Künstler und sage zu. Wie sich herausstellt, ist er doch nicht so begabt und probiert wohl auch zum ersten Mal Henna aus – ich entscheide mich das beste aus seinen wackeligen Linien zu machen und die Zeit zu nutzen, ihn zu fragen wieso er Berlin als seine neue Heimat ausgewählt habe. Eine Frage und ein Thema, dass in der Regel immer ein guter Einstieg für interessante Gespräche auf Parties ist. Es ist eine kleine Migrationsgeschichte, die einen tiefen und authentischen Blick auf das Leben der antwortenden Person werfen kann.

Der Künstler pausiert mein Tattoo, und antwortet: Letztens, als er in seiner Gegend im Prenzlauer Berg herumgelaufen sei, hätte er ein Sexkino inmitten der Wohnhäuser gesehen. Und das hätte ihm unglaublich viel Freude bereitet, zu sehen, dass in dieser Stadt Sex vollkommen normal gelebt wird, dass eben sexuelle Freiheit herrsche – im Gegensatz zu seinem Heimatort Moskau, wo er sich als schwuler Mann eben nicht so sicher fühlt wie in Berlin.

Berlin, ein sexuell-freier Ort?

Ich nicke und bejahe, dass die Situation in Moskau und in ganz Russland aufgrund der politischen und soziokulturellen Haltung gegenüber Homosexualität sicherlich gefährlich sei. Während er sich weiter auf meine Hand konzentriert, halte ich aber inne und überlege, ob ich Berlin als „sexuell-freien“ Ort so stehen lassen kann.

Berlin ist in irgendeiner Form Schutzraum für viele, die nicht heteronormativ leben und sind. Hier können und dürfen tatsächlich Menschen ihre sexuelle Identität erörtern, erleben, ausleben und auch umleben. Dies erscheint als natürlicher Teil der hiesigen urbanen Kultur. Natürlich ist Berlin kein Machtvakuum, und daher begegnet Nicht-Heterosexuellen auch hier Diskriminierung und Gewalt. Unter dem Strich jedoch ist die Stadt für „anders“-Begehrende und -Liebende jedoch lebenswert, wie die hohe Dichte von Nicht-Heteros mit ihren Communities und ihre eigenen sozioökonomischen Infrastruktur zeigt.

Ich frage mich aber, inwiefern wir unsere eigene Entscheidungskompetenz über unsere Sexualität behalten. Was ist für uns sexuelles Freisein? Sind es die Vorlieben, die wir uns durchs Ausprobieren aneignen? Oder sind es Vorlieben, die wir uns durch die vorherrschenden Ansichten was sexuelles Freisein sei, aneignen? Frage ich, was zuerst da war…Henne oder Ei? Vielleicht gibt es an dieser Stelle schlauere oder interessantere Fragen, mich aber beschäftigt genau diese Frage nach Struktur und Handlung. Ist es das Symbol der freien Sexualität, welches Berliner*innen in ihrem Handeln beeinflusst? Habe ich mehr und auf verschiedenen Arten Sex, weil ich es wirklich will oder weil ich glaube, es sei normal…oder gar mein Recht?

Ficken in der Öffentlichkeit und sexuelle Trophäen als neuer Normzwang

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem ehemaligen Mitbewohner, der für Schwule ein Recht zu blasen und zu ficken in der Öffentlichkeit postulierte. Dies meinte er durchaus politisch, und nicht plump und unbedacht. Es ging dabei um den Berliner CSD, wo schon recht viele Männer mit anderen Männern in den Gebüschen um die Parade herum Sex haben – an den restlichen 364 Tagen im Jahr würde ich mich nicht dran stören, aber ausgerechnet an dem einen Tag, wo wir eine vergleichsweise enorme Medien- und Öffentlichkeitsaufmerksamkeit haben…an einem Tag, an dem wir laut Gleichberechtigung und Normalisierung unsere sexuellen Identitäten und den Abbau von Heteronormativität einfordern wollen…es erscheint, als sei der CSD der entpolitisiert, feiernder Schatten seiner Selbst. Sich selbst feiern gehört dazu, wir sollten uns unser nicht schämen. Nur wie viel hilft das, wenn Menschen mit wenig Kontakt zu Schwulen dann als Touristen-Ereignis den Sex im Gebüsch begaffen können? Mein Mitbewohner deklarierte den öffentlichen Sex als politisierten Akt. Meint er wirklich, dass die Männer beim Anbandeln vor Ort dies demonstrativ tun und an solche Forderungen wie staatlich anerkannte Homo-Ehen denken? Fordern wir beim CSD unsere Recht auf Sex ein? Ist dies ein Menschenrecht, ist das also sexuelle Freiheit?

Die neuesten Trophäen sind hot refugees

Ich erinnere mich auch wie auf Parties, die ich besucht habe, Menschen als sexuelle Trophäen gesammelt werden. Zugeschriebene ästhetische Qualität, aber auch die Quantität ist dabei fast wie eine neue soziale Währung. Die eigene Identität wird oft widergespiegelt durch die Wahl der Sexpartner*innen. Beispielsweise herrscht in einem Club, in dem ich öfter war, eine sehr homonormative Atmosphäre. Männliche Männer sind auf dem „Markt“ begehrt, und wenn mensch lange genug beobachtet, zeigt sich ein deutliches Muster: Viele Männer fangen was mit Männern an, die sie als männlich-attraktiv genug empfinden um damit in der Öffentlichkeit gesehen zu werden. Denn dieser situative Partner spiegelt automatisch die eigene Attraktivität im Raum wider. Ich kann hierzu scheinbar unendlich viele Geschichten erzählen. Beispielsweise hat ein Freund sich für den Sex auf den Clubtoiletten mit einem Schwarzen Adonis, so wie er ihn nannte, entschieden, obwohl er keine Lust auf Sex hatte und der Typ zwar attraktiv aber nicht sein Typ Mann gewesen sei. Wieso? Weil all seine Freunde diesen Adonis super sexy fanden, und mein Kumpel der Meinung war, er könne doch so einen Typen nicht einfach abweisen…schließlich wolle Hercules ja jeder, und nun sei er der Auserwählte. Kurz: Mein Kumpel sah hierin a) sozialen Druck und b) eine perfekte Möglichkeit, seine eigene Attraktivität validiert bzw. gesteigert zu bekommen. Ist das also sexuelle Freiheit? Irgendwo zwischen Narzissmus und der Neoliberalisierung von Körpern?

Die neuesten Trophäen sind übrigens „hot refugees“, wie ich in meinen Kreisen so höre. Sie sind auch auf dieser Party vertreten. Hier muss ich unweigerlich an einen Artikel denken, den ich in der Nightlife-Ausgabe des englischsprachigen Magazins Exberliner las. Bei einer queeren Refugees Welcome Party sei es auf der Tanzfläche zu einer Schlägerei gekommen, deren Auslöser ich sowohl amüsant als auch nachvollziehbar finde, dennoch die Gewaltanwendung inakzeptabel. Anscheinend hätten einige lokale Männer mit Geflüchteten angebandelt oder seien eben gemeinsam mit ihnen als Date auf die Party gekommen, und seien beim Knutschen mit anderen Partygästen/Refugees von ihren Dates gesichtet worden. Das ist vielleicht auch so eine Eigenheit in Berlin: Hier wird gerne unverhohlen mit mehreren Menschen gleichzeitig was eingegangen. Was schön und spaßig sein kann – aber ist das noch sexuelle Freiheit, den jemenschen vor dem Kopf zu stoßen und sich mutwillig in die Grauzone des zwischenmenschlichen Respekts zu begeben?

Sex in kapitalistischen Parametern: Das All-You-Can-Eat-Buffet

Letztendlich erkläre ich mir das, nach acht Jahren Beobachten, Erleben und Ausleben, so in Berlin: Sex ist, hier wie auch woanders, in kapitalistischen Parametern zu verstehen. Ungefähr so wie ein Essensbüffet: Ich sehe verschiedene Gerichte, und davon reichlich. Der Nachschub ist garantiert. Da das Essen bezahlt wurde, und es eben auch da ist, wird mehr probiert und vor allem mehr gegessen, als der Magen es sich leisten kann und will. Eine unausweichliche Überfressung, bei der der eigene Körper und auch das Essen nicht viel Wertschätzung erfährt. Uns erscheint aber die Form eines All-You-Can-Eat-Buffets fast schon natürlich und auch spannend, es hat seinen Platz in unserer Esskultur gefunden.

Und ich frage: Ist meine Freiheit denn nicht, dass ich trotz der Verfügbarkeit des Essens am Büffet, nichts esse – weil mir eben gerade nichts zusagt? Oder vielleicht ein oder zwei Gerichte genussvoll esse? Ist meine sexuelle Freiheit nicht, wenn eine heiße Person mir Sex anbietet ohne sozialen Druck oder Reue Nein sagen zu können, weil ich mich einfach nicht danach fühle? Ist meine sexuelle Freiheit denn nicht, zu einer Party zu gehen ohne das Gefühl zu haben, sie sei nicht gelungen, weil ich mit keinem was angefangen habe? Ist meine sexuelle Freiheit also nicht, mit jedem Sex haben zu dürfen/können aber mit keinem zu wollen?!

Um ehrlich zu sein, habe ich schon das Knutschen auf Partys aufgegeben. Zu oft werde ich dabei mit einem sexuellen Akt überrannt, als wäre ein Automatismus einprogrammiert, dass ein Kuss nicht nur ein Kuss zum sinnlichen Erleben sein kann, sondern unausweichlich zu sexuellen Handlungen führen muss. Und ich schwinge hier keine Moralkeule – es ist wunderbar, dass wir theoretisch unsere sexuelle Identität und weitgehendst auch sexuellen Vorlieben ausleben können und dürfen. Und praktisch sollten wir unser Bewusstsein nicht verlieren, darüber was wir denn eigentlich möchten und brauchen.

Hier frage ich mich auch, wie es wohl, den nach Berlin zugezogenen Menschen ergeht – insbesondere wenn sie aus Kulturräumen kommen, wo Sexualität in der Öffentlichkeit wesentlich subtiler vorkommt bzw. vorkommen muss. Was erleben, sehen und erlernen diese Zugezogenen von uns? Dass es normal ist und sexuell befreiend, andere auf Parties als Flirten anzugrapschen? Egal welchen Geschlechts, das passiert viel zu oft auf Parties. Mir wurde dies erst bewusst, etwas das viele Frauen schon längst kennen, als ich mich auf der Tanzfläche von mehreren Seiten bedrängt sah und runter von ihr musste, um mich wieder sicher zu fühlen – in einem Club, der für sexuelle Freiheit steht.

Raum, Zeit und Wertschätzung für Wassertrinken und Sex

Ich frage den Künstler, ob er Marina Abromovic kenne. Natürlich tue er dies, sagt er. Er liebe ihre Persona und ihre Kunst. Ich muss lächeln, denn ich weiss, womit ich dann unsere nächste Konversation beginnen kann. Denn bei Recherchen für Ressourcen, um meiner Esssucht eigenständig entgegenzutreten, stieß ich mal auf ein Video von Performance-Künstlerin Marina Abramovic. In diesem Video erklärt sie, wie in ihrem Verständnis ein Glas Wasser zu trinken sei: Mit Raum, Zeit und damit auch Wertschätzung gegenüber dem Wasser und dem Akt des Trinkens. Hier vermischt sich körperliches Grundbedürfnis mit Spiritualität, ohne esoterisch oder impraktikabel zu sein. Ich wollte mich von meinem Esszwang befreien und fand hierin eine gute Anleitung, denn ich aß nur noch weil ich ständig essen konnte – nicht weil ich es wollte, konnte, oder gar musste, letztlich hatte ich ja durch das Daueressen nie ein Hungergefühl. Und ebenso konnte ich diese Übung auf mein Sexualleben anwenden, dass streckenweise zwanghaft wurde. Es wurde also zu meiner ganz persönlichen Freiheit, den einen sexuellen Akt zu erwarten…ihn zu vollziehen..und ihn einwirken zu lassen. Insbesondere, wenn ich dabei auch dekolonial dachte und nicht mehr die zugeschriebene Rolle des vermeintlichen Orient-Prinzen annahm.

Ein breites Grinsen und erwartungsvoll leuchtende Augen brechen meinen Gedankenfluss ab: Sein erstes Henna-Tattoo ist fertig, und ich darf mich wohl seine Muse und Leinwand nennen. Dies halten wir beide auf unseren Smartphones fest. Er sichtlich stolz, und ich die Absurdität der Situation feiernd. Ich entscheide mich gegen den Dialog, um ihm seine berechtigte Freude an Berlin und an unserem Moment zu lassen. Sicherlich gibt es eine andere Gelegenheit, seine Antwort auf meine inneren Fragen zu bekommen. Ich bin gespannt.

Bild: trebbyeah CC


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